Fassaden, Portale und Kapitelle im Poitou und in der Saintonge (Frankreich)


Portal und Fassade der Kirche Notre-Dame-la-Grande, Poitiers


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Notre-Dame-la-Grande, Poitiers
Notre-Dame-la-Grande*) - das klingt monumental und ist es auch, wenn man nicht so sehr die Größe in Metern sondern eher die kulturhistorische und künstlerische Bedeutung in Betracht zieht. Insbesondere die Westfassade mit ihren zahlreichen Skulpturen ist ein absolutes Meisterwerk romanischer Kunst.

*) Unter diesem Namen wird die Kirche bereits im 10. Jahrhundert erwähnt, auch zur Unterscheidung zu einer weiteren romanischen Notre-Dame-Kirche.

Der größere Teil der Kirche wurde in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhundert neu erbaut und diese im Jahr 1086 geweiht. Die Kirche befand/befindet sich in unmittelbarer Nähe des Grafenpalastes, die Grafen und Herzöge des Poitou bzw. Aquitaniens spielten eine wichtige Rolle im politischen Machtgefüge des mittelalterlichen Frankreich. Erinnert sei nur an die legendäre Königin Eleonore von Aquitanien und ihren berühmten Sohn Richard Löwenherz.

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Westfassade Notre-Dame-la-Grande, Poitiers
Im Lauf ihrer langen Geschichte veränderte die Kirche öfter ihr Erscheinungsbild: so wurden z. B. der alte Glockenturm abgebrochen, verschiedene Kapellen und Anbauten hinzugefügt, auch die umgebende Bebauung änderte sich.
Bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde die Kirche um zwei Joche nach Westen vergrößert und die neue Westfassade mit dem grandiosen Skulpturenprogramm errichtet.

In den Religionskriegen wurde die Kirche schwer in Mitleidenschaft gezogen: 1562 beschädigten Hugenotten die in ihren Augen mißliebigen Figuren, indem sie ihnen die Köpfe abschlugen. Später setzten vor allem Umwelteinflüsse (u. a. Salze) der Fassade zu.

Von 1992 bis 2004 fanden umfangreiche Restaurierungskampagnen statt. Die Fassade wurde grundlegend gereinigt, viele Teile erneuert und Mauerwerk verfestigt. Heute kann man im Sommer mit Einbruch der Dunkelheit sogar ein besonderes Licht-Kunst-Spektakel erleben - die gesamte Fassade erstrahlt in farbigem Licht und erinnert so an die im Mittelalter gebräuchliche Polychromie.

Die Portalzone

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Portale, Notre-Dame-la-Grande, Poitiers
Wie in der Region üblich beherrschen drei Portale die Erdgeschosszone, die seitlichen Portale sind wiederum Scheinportale. Die Archivolten der Portale werden reich mit floralen Motiven und seltsamen Wesen - ornamentale Vogel- und Tiermuster - dekoriert. Irgendwie erinnern diese "Ornamente" an geheimnisvolle Schriftzeichen...  
An einigen Stellen kann man auch sehr schön den Unterschied zwischen den restaurierten bzw. gereinigten aber manchmal doch stark verwitterten und den neuen, durch Kopien ersetzten Figuren studieren.

Hauptportal, Details der Archivolten
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Bei den seitlichen Scheinportalen ist mittig eine zusätzliche Säule eingestellt, so dass jeweils zwei Tympanonfelder entstehen, die Darstellungen von tierischen Wesen enthalten. Auch hier sind die Archivolten reich verziert.

Linkes und rechtes Scheinportal, Details
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Obere Reihe: Details am linken Scheinportal, mittlere und untere Reihe: rechtes Scheinportal

Die Lust am bildhauerischen Gestalten findet an den Kapitellen der Portalzone ihre Fortsetzung:

Kapitelle im Portalbereich
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In den Zwickeln und oberhalb der Portalbögen setzt der erste Figurenzyklus an.


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Die Skulpturen

Die Bildhauer ließen keinen Fleck der Wand frei, über die gesamte Fläche breitet sich der Skulpturenschmuck aus. Der übergreifende ikonographische Gedanke ist die Ankündigung, Erscheinung und Wiederkunft Christi zur Rettung der Menschheit. Schauen wir uns die Details etwas näher an.

Die Szenenfolge beginnt über dem linken Scheinportal mit den Figuren von Adam und Eva, die unter dem Baum im Paradies von den verbotenen Früchten kosten. Das ist die Ursünde, mit der nun die gesamte Menscheit konfrontiert ist. In den Schriften des Alten Testaments wird ausführlich das (auf einen kleinen Kreis geografisch begrenzte) Leben der Menschen in der alten Welt danach beschrieben - an der Fassade symbolisiert durch den babylonischen König Nebukadnezar (der hier Nabuchondnosor genannt wird).

Figurenzyklus links an der Westfassade
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V. l. n. r.: Adam und Eva, König Nabuchondnosor, vier Propheten mit Weissagungen

Immer wieder tauchen jedoch in diesen alttestamentarischen, babylonischen Zeiten sogenannte Propheten auf, die weissagend in die Zukunft blicken - sie sagen die Ankunft eines Erlösers voraus. Sehr schön werden an der Fassade von Notre-Dame la Grande die Propheten Daniel, Moses, Jesaja und Jeremia mit Schriftbändern oder Büchern dargestellt. Diesen vier Herren folgen nun die Darstellung der Verkündigung, die Wurzel Jesse und (wahrscheinlich) die Figur des Königs David auf einem Thron. Jesaia hatte prophezeit, dass der Retter aus dem Hause Davids kommen und aus der Wurzel Jesse sprossen würde.

Figurenzyklus an der Westfassade
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Verkündigung (Erzengel Gabriel und Maria), Wurzel Jesse, König David auf dem Thron?
  
Die Figuren links vom Hauptportal stellen so mit dem Bezug zum Alten Testament (die sogenannte Präfiguration) die Heilsgeschichte mit Ankündigung und Herkunft des Erlösers in den größeren Rahmen eines göttlichen Gesamtplanes.

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Maria besucht Elisabeth
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Heimsuchung
Rechts vom Hauptportal wird dieser Plan fortgesetzt: Doch zunächst treffen sich die beiden schwangeren Frauen Maria und Elisabeth (die sogenannte Heimsuchung) zwischen den Städten Nazareth und Jerusalem. Die Darstellung der beiden Städte steht auch für den alten und für den neuen Bund - Nazareth ist symbolisch die Synagoge, Jerusalem, dargestellt wie eine mittelalterliche Stadt mit zinnenbewehrter Stadtmauer, Kathedrale mit Kreuz sowie Tor und Turm (oder Palast?), ist die neue Kirche, die Ecclesia.

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Alte und neue Kirche, Synagoge und Ecclesia, alte und neue Stadt, Nazareth und Jerusalem

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Jesu Geburt, Maria ruht sich aus
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Ein Wickelkind
Und dann ist es soweit, der Erlöser kommt auf die Welt, wir sehen ihn straff gewickelt im geflochtenen Körbchen liegen, Ochs und Esel schauen zu, während Maria (in einem Bett mit Bettpfosten!) sich ausruht.
  
Anschließend wird das Kind von zwei Frauen im Zuber gebadet, wo kommen denn die beiden Frauen plötzlich her? So ganz einsam scheint es also (entgegen der bei uns bekannten Weihnachtsgeschichte) doch nicht gewesen zu sein, auch wenn Joseph grübelnd und doch ziemlich gedankenverloren dabei sitzt. Vielleicht geht ja auch diese Darstellung auf hygienische Vorstellungen zurück, die heimkehrende Kreuzfahrer aus dem Orient mitbrachten. Der Badezuber hat übrigens die Gestalt eines Kelches, was auf die spätere Passion Christi hinweist.

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Das Kind im Badezuber, der gedankenvolle Joseph, zwei (vier?) miteinander Ringende

Unterhalb der Figur des Joseph kämpfen zwei Männer miteinander, eine der möglichen Deutungen der Kunsthistoriker sieht darin das Ringen des Jakob mit Gott (bzw. mit dem Engel Gottes).


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Dämon, mit sich selbst ringend?

Im Zwickel zwischen dem linken Scheinportal und dem Hauptportal findet sich ein interessantes Detail: Unter der Verkündigungsszene, direkt unter den Füßen des Engels und Marias, ringt ein dreiköpfiger Dämon (der Teufel?) mit sich selbst und hat Mühe, zwei seiner Köpfe auf Distanz zu halten... Aber diese Unterwelt ist fest überdeckelt.

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Eine phantasievolle Konsolenreihe leitet über zum zweiten Geschoss. In diesem Geschoss betont das große zentrale Fenster in der Fortsetzung des Hauptportals die Mittelachse. Links und rechts davon befinden sich übereinander gestellt zwei Arkadenreihen mit insgesamt 14 Figuren. Dabei handelt es sich um die 12 Apostel und zwei bedeutende Bischöfe, den hl. Hilarius und den hl. Martin von Tours. In der unteren Arkadenreihe werden sie sitzend angeordnet, darüber als Standfiguren. Die beiden zusätzlichen Skulpturen von Bischöfen ganz außen in der Apostelreihe verdeutlichen den Anspruch und das Selbstverständnis der Geistlichkeit im Poitou, sich in der Nachfolge der Apostel zu sehen.

Apostel, zwei Bischöfe, Bögen und Kapitelle
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Apostel, Bögen und Kapitelle
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hl. Bischof

Den Abschluss im Giebel bildet die große Christusmandorla: Christus, der Weltenherrscher, erscheint schließlich in all seiner Herrlichkeit, umgeben von den vier apokalyptischen Wesen und begleitet von Sonne und Mond. Der Kreis der Weltgeschichte (so wie es die christliche Theologie lehrte, - die Eschatologie ist die Lehre von der Vollendung) hat sich hier an der Fassade von Notre-Dame-la-Grande in Poitiers geschlossen.

Christusmandorla
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Die Westfassade von Notre-Dame-la-Grande ist ein absolutes Highlight der romanischen Kunst und ein "Paradebeispiel der poitevinischen Fassaden". (Th. Droste)

Wird fortgesetzt!
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Quellen und Literatur:
Thorsten Droste, Das Poitou, DuMont Buchverlag Köln, 5. Auflage 1995, S. 72ff.


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zum 2. Teil der romanischen Kapitelle in Poitiers